Dienstag, 30. September 2008

Auf dem Fujiyama – Guck mal, wer da speit (C’est la vie, say the old folks)

Jeder gesunde Japaner sollte einmal im Leben den Fujiyama – hier Fuji-san genannt – bestiegen haben. Wer zweimal hinaufsteigt, hat einen an der Klatsche – diese Formel hört man im Lande immer wieder.

Da der Berg mit seinen 3.776 Metern ziemlich weit in die Schneezone reicht, ist ein Aufstieg allerdings nur in den zwei Sommermonaten Juli und August ratsam, und nur in diesen beiden Monaten sind die Hütten bewirtschaftet (Gipfelbier!). Schweren Herzens verabschiedete ich mich von meinem zuvor gefassten Entschluß, den japanischen LKW-Führerschein zu machen und buchte stattdessen eine geführte Tour auf den heiligen Berg.

Der Morgen begann zeitig: Treffpunkt 8 Uhr in der Früh nähe Shinjuku Station, mit zwei Millionen Fahrgästen einer der frequentiertesten Bahnhöfe Tokios, heißt für mich Aufstehen um 5:30 Uhr. Im Frühtau bahnte ich mir den Weg zur nächsten Bahnstation; gottseidank kam nach 50 Metern ein Taxi und erlöste mich temporär von der Last meines mit dem Nötigsten bepackten Rucksacks. Noch hellwach hatte ich in Shinjuku nur geringe Probleme, unter hunderten von Bussen den richtigen auszumachen: Ein illustrer kleiner Trupp aus Amerikanern, Kanadiern und Chinesen versprach eine gesellige Besteigung.

Ähnlich wie bei katholischen Pilgerstätten teilt man den Aufstieg auf den heiligen Berg in Stationen, beginnend mit der ersten auf ca. 600 Meter bis zur zehnten auf dem Gipfel. Das Bussle mit uns fünfzehn Besteigern zockelte nun zielgerecht zur fünften Station auf 2.300 Meter über Grund: Dies ist der Ausgangspunkt für die meisten Bestgeigungen, ein Parkplatz für mehrere hundert Fahrzeuge, Restaurants und Andenkenläden, in denen man den zwei Meter langen Pilgerstab aus unbehandeltem Fichtenholz erwirbt, Gelegenheit hat zu einem letzten Bier (vor der nächsten Station), der letzten Toilettenspülung und dem absolut letzten Wassertropfen aus dem letzten Hahn.

Dann beginnt der Fußmarsch in der Mittagshitze auf zunächst leicht ansteigendem Terrain. Die schmerzverzerrten Gesichter der Entgegenhumpelnden hätte uns eine Warnung sein sollen, und bald bogen wir scharf nach rechts in die Kegelwand ein. Für einen Vulkan ist der Berg erstaunlich steil; angeblich weil er noch relativ jung ist und seine Fall-Linie bisher nur von wenigen Ausbrüchen (zuletzt 1707) geglättet wurde.

Inzwischen haben wir uns in der Truppe alle etwas kennengelernt und halten vergnügt das eine oder andere Schwätzchen. Mein Nebensitzer aus dem Bus, David, ist ein netter Missionar aus Seattle, USA. Ich mag ihn, denn erstens ist er noch älter als ich, und zweitens spricht er ausgezeichnetes Schwäbisch und Bayerisch. Wenn wir uns nicht gerade Zitate von Chuck Berry’s „You never can tell“ an den Kopf werfen, können wir uns so in einem Idiom verständigen, das den meisten Mitkletterern nicht so geläufig ist.

Alle sind recht gut in Form und wir machen trotz der Hitze gute Fortschritte im steiler werdenden Massiv. An jeder Station ist gleichzeitig ein Schrein untergebracht, und wenn wir ankommen zückt der am offenen Feuer sitzende Schreine-Priester sein Brenneisen und drückt es auf unsere Pilgerstäbe, um das Etappenziel zu markieren.

Nach knapp vier Stunden erreichen wir auf 2.800 Metern Höhe schon die Nachtstation. Das Festmahl in der Hütte besteht aus der beliebten japanischen Spezialität „Kerireisu“, also Curryreis, das ist ein pampiger Reis mit einer Soße, welche in allen japanischen Restaurants grundsätzlich in drei verschiedenen Brauntönen (Chicken, Beef, Vegitalian) angeboten wird, und in allen Restaurants absolut gleich schmeckt. Ich nehme an, die tiefgefrorenen Plastikbeutel werden irgendwo in Zentralchina abgefüllt (die Japaner haben bei Lebensmitteln eine Importquote von sage und schreibe 60%!). Wir hatten heute „Beef“, d. h. dunkelbraun, und die Soße war von der Variante „komplettverdaut“, d. h. es schwamm kein einziges Fleischstückchen mehr drin herum.

Gegen halb sechs haben wir uns dann nebenan in die Schlafabteilung zurückgezogen. Da liegen nun 50 Hilfsbersteiger mit Ihren Blähungen auf einem Massenlager und versuchen, geräuschlos für Druckausgleich zu sorgen; bei dieser Höhe kein leichtes Vorhaben. David neben mir hat sich schon in Missionareinzelstellung gebracht; ich aber kann beim besten Willen keine Ruhe finden. Mir stößt der „Kerireisu“ heute besonders fies auf, und ich schwöre beim heiligen Fuji, nie wieder welchen zu mir zu nehmen.

Alle Stunde kommt eine neue Reisegruppe an und nistet sich in eines der Nachbarlager ein. Zwischendrin, jedes mal bin ich kurz vor dem Wegnicken, trippelt irgendein blödes Kind (eigentlich sind Japanerkinder ja so süss!) aufgeregt durch den Holzdielengang hinter dem Schlaflager, knallt mit dem Kopf gegen die Wand, läßt die Tür mit einem lauten Klatsch zurückfedern und flüstert seinem auf der Toilette eingeklemmten Erziehungsberechtigten irgendwelche Sachen ins Ohr: Na klar, die Kinder sind aufgeregt – ist wohl das erste Mal , daß sie einen so hohen Berg besteigen dürfen! Um 23:41 nicke ich endlich aus meinen Wachträumen von heißen Duschen und warmen Federbetten in einen ruhigen Tiefschlaf.

Leider war dann um 23:45 Uhr Wecken und Aufstehen angesagt! Ich hatte als einzigen Luxus eine frische Unterhose dabei, und wurde doch tatsächlich mitten im Wechseln, sozusagen in flagranti, vom Hüttenwart verwarnt: Was ich denn täte hier mit meiner Morgentoilette, und um Punkt zwölf hätten wir gefälligst wieder am Berghang zu hängen, das Lager sei ab 24:00 Uhr schon wieder weitervermietet!

Im Raushumpeln schnappe ich mir noch schnell das pauschalgebuchte Frühstück, eine sogenannte „Bento Box“ mit einer Auswahl japanischer Köstlichkeiten (eingelegte Radiergummis, roher Fisch, abgestürzte Bergratten), rieche kurz daran und entscheide ganz schnell, meinen Rucksack nicht mit dieser Aromabombe zu belasten. Der Hüttenwart war sprachlos aber artig, als ich ihm das Paket wieder in die Hand drückte.

Ungefrühstückt, halbverdaut und missmutig reihen wir uns wieder in die Phalanx der Pilger ein. Die Nacht ist wolkenlos aber nicht besonders kalt; trotzdem fahre ich jetzt meine Hosenbeine aus, denn auf dem Gipfel soll ein eisiger Wind herrschen. Wegen der Dunkelheit haben wir jetzt alle unsere Stirnlampen angeschaltet. Nach fünfzehn Minuten Anstieg geben zwei aus der Gruppe auf: Eine fitte kalifornisch-japanische Mutter mit ihrem 10-jähirgen „Nintendo-Kind“; der Kleine war etwas zu gut ernährt für diese Herausforderung.

Nach einer kurzen Unterbrechung setzen wir den Aufstieg fort. Die Luft wird langsam dünner und ich erleide einen ersten Herzinfarkt. Trotzdem laufe ich weiter. Ich vermesse mit gespanntem Blick die steile Wand, die sich vor mir auftut und schaue zum Vergleich nach unten: Es sieht immer so aus, als wären wir genau auf halber Strecke. Verdammt! Der zweite Herzinfarkt! Ob ich das noch schaffe? Ich zähle die Isohypsen zwischen den Hütten, die jeweils im Abstand von 100 bis 150 Höhenmetern angesiedelt sind. Bei der nächsten Hütte bin ich richtig sauer: Es werden 3,250 Meter angezeigt, obwohl nach meiner Berechnung schon 3.400 Meter erreicht sein müssten! Trotzdem lass ich mir einen weiteren Stempelabdruck in meinen Pilgerstab brennen und frage scherzhaft nach, ob hier auch heißer Kaffee serviert wird. Die Antwort ist überraschenderweise „Ja“ und ich leiste mir einen sehr teuren aber ausgezeichneten Heißen Nescafé. Danach fühle ich mich zwanzig Minuten lang wirklich besser, erleide dann aber doch noch einen kleinen Schlaganfall. Neidisch schaue ich auf die siebzigjährigen Japaner, die an der nächsten Kehre eine kleine Zigarettenpause einlegen, während ich hier nach Luft japse.

David und ich halten ganz ordentlich mit, aber lustig ist es inzwischen nicht mehr. Da tauchen plötzlich die Umrisse der Felsen deutlicher auf als zuvor, eine leichtes Morgengrauen deutet sich an, und in der Tat ist auch schon das Shinto-Tor des Gipfels in Sicht- und Reichweite! Wir suchen uns ein gemütliches Plätzchen im Seitenaus und machen uns fertig für den Phototermin: Ein erstes Schimmern am Horizont, ein rotes Lämpchen, dann der goldene Schein über dem Wolkenmeer, das sich lückenlos ca. 1500 Höhenmeter unter uns ausbreitet.

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Der Fujiyama hat mein Leben verändert: Nach der Besteigung stehe ich eine ganze Woche lang jeden morgen um 05:30 Uhr auf.

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Sonntag, 07.09.2008: Einer Meldung der "Japan Times" entnehme ich, daß letzte Woche eine Gruppe von amerikanischen Soldaten den Fujiyama für einen wohltätigen Zweck bestiegen hat. Die vier GI’s sind – wie wir – von der fünften Station bis zum Gipfel aufgestiegen, und dann wieder zur fünften Station zurück – aber sage und schreibe vier (4!) mal, non-stop, innerhalb von 24 Stunden!!! Ich glaub’ ich muß mich übergeben….