Montag, 13. Oktober 2008

Mabu

"Are you Riehmann Bladder?"

Mein Büro befindet sich im 37. Stock des Mori Tower, welcher das Zentrum von Roppongi Hills bildet. Roppongi Hills ist eine Stadt in der Stadt, fünf Jahre alt, und immer noch das Zentrum der Haute Volé. Neben der größten Fernsehstation und dem größten Kino-Center des Landes beherbergt diese Stadtlandschaft eines der besten Hotels, die exklusivsten Läden, Sterne-Restaurants, Banken, Fitness-Studios, Massage-Salons, und alles was der Mensch sonst noch im Laufe eines Büroalltags zu schätzen weiß bzw. was die mit Bussen anreisenden Touristengruppen, Schulklassen und Pfadfindertrupps zum Staunen bringt. Dadurch daß sich die Gebäude-Landschaft über ein Dutzend Etagen wie eine japanische Burg um den Mori-Tower windet sind die Distanzen kurz; durch eine extrem ausgefeilte, kurzweilige und durchdachte Architektur aus besten, geschmackvollen Materialen (bin ich hier in Japan?) ist jeder Gang durch Roppongi Hills selbst nach einem Jahr noch stimulierend und kurzweilig.

Heute ist meine Stimmung jedoch nicht nur wegen der nicht enden wollenden Finanzkrise gedämpft. Von einem Kollegen habe ich erfahren, daß sich meine Tokioter Lieblingsband, die Silver Beats, getrennt hat. Betrübt latsche ich nach draußen und komme am Haupteingang an dem Steinquader mit der klotzigen Aufschrift „Lehman Brothers“, der immer mehr wie ein Grabstein aussieht, vorbei. Seit einigen Tagen stehen Kamerateams vor dem Gebäude um mit einem der 1300 Angestellten, welche nach der Insolvenz ihres Unternehmens mit gefüllten Aldi-Tüten aus dem Gebäude laufen, ein Interview zu erhalten. „Are you Riehmann Bladder?“ fragt mich der japanische Reporter. Ich verneine dies, soll er doch glauben, daß ich einer der 1500 „Goldmänner“ bin, die ebenfalls im Gebäude arbeiten.

Nach fünf Minuten komme ich mitten im Vergnügungsviertel Roppongi vor dem Cavern Club zu stehen: Im letzten Jahr bin ich mindestens einmal im Monat hier eingekehrt und wurde jedes Mal musikalisch tief befriedigt wieder rausgekehrt. Die Japaner haben ein unglaubliches Talent und einen eisernen Willen zur Kopie und zur Prozessoptimierung. Die vier Jungs, die vor sechs Jahren vom Club-Besitzer unter den besten Tokioter Musikern ausgewählt und als Hausband zusammengestellt wurden, hatten den Beatles-Prozess perfektioniert: Neben den Originalinstrumenten und den maßgeschneiderten Anzügen: Paul immer mit leicht nach oben geneigtem Kopf, Ringo immer mit einem verschmitzt dämlichen Grinsen und perfektem, abwechslungsreichen Schlag, Kubo als George einer der besten Gitarristen Japans, und Mabu als John schon am Rande einer Illusion: Als Halbamerikaner sieht er nicht nur aus wie der junge John Lennon, in dessen Todesjahr er geboren wurde, sondern er hat auch exakt seine Stimme, die natürlich-antrainierte Körperhaltung und den Gitarrenanschlag. Daß der Junge dann auch noch den Keyboard-Part der McCartney-Stücke übernahm und teilweise die Soli von George Harrison spielte grenzte dann schon an der Vorstellungskraft des eingefleischten Beatles-Fans. Wenn Mabu mit verzückt entspanntem Gesicht die Schlußharmonien von „I want to hold your hand“ ins Mikrofon stieß und dabei die Pilzkopfmähne schüttelte, lief auch abgebrühten japanischen Mafiabossen ein kalter Schauer durchs Rückenmark: Du warst mitten in der Beatles-Hysterie der frühen sechziger Jahre.

Die Jungs spielten hier sechs Jahre lang fünf Tage die Woche von abends sieben bis morgens um zwei. Durch die ständige Wiederholung waren die Silver Beats in der Präsentation der Lieder besser, als es die Original-Beatles je sein konnten. Nach einer fulminanten zweiten Tournee durch die Vereinigten Staaten in diesem Sommer haben sie ihren Vertrag noch bis 31. August erfüllt, dann war Schluß. – Ich stehe vor dem lindgrünen Vespa-Rolle aus den sechziger Jahren, der immer vor dem Cavern Club geparkt ist, und spüre ein Gefühl der Leere wie im Frühjahr 1970.

Um mich zu trösteln beschließe ich, indisch zu essen und gehe zu Bernd’s Bar. Lustlos stochere ich in meiner Currywurst herum und nippe an dem viel zu bitteren Jever. Die Alternativen in diesem Restaurant sind auch nicht besser: Es dürfte sich doch inzwischen in Tokio herumgesprochen haben, daß ich nicht auf Hefeweißbier stehe, und auch das klebrige dunkle Köstritzer ist nicht gerade meine Marke. Ich lechze nach einem klaren, frischen Asahi, einem Sapporo oder Kirin! Ich fasse den Entschluss, Bernd demnächst mal vorzuschlagen, doch endlich auch süffiges japanisches Bier in seiner deutschen Kneipe auszuschenken; mal sehen, wie er’s aufnimmt. Das mache ich aber erst, wenn ich wieder gute Laune habe.

Wieder auf der Strasse gehe ich achtlos an den jungen Damen vorbei, deren Aufzug auch in jedem Frankfurter Kontakthof als völlig unauffällig durchgehen würde. Ich meine nicht die Mädels aus den „Hostess Bars“ („dorink and talk only!“), sondern die ganz normalen OLs („office ladies“), deren Pirsch nach jungen Investment Bankern oder Staranwälten, welche noch nicht von der Finanzkrise betroffen sind, etwas schwieriger geworden sein dürfte. – Vor dem Schaufenster des Bentley-Händlers stelle ich fest, daß dieser auch schon auf die Herbstfarben umgestellt hat: Letzten Monat waren noch alle sieben Ausstellungsstücke in der Modefarbe weiß gehalten, inzwischen herrschen wieder erdige Töne vor. Auch der Maserati-Händler nebenan hat inzwischen von aggressivem Gelb auf getragenes Silber umgestellt.

Auf der Rolltreppe schlängele ich mich an dem Typen im blauen Anton vorbei, der den befördernden Personen immer nur sein Hinterteil zeigt; geht auch nicht anders, denn mit dem gesamten Oberkörper ist er über das Gummiband des Handlaufs geklappt um mit einem großen weißen Tuch treppauf treppab die Glasseitenwände des Rollsteigs sauberzuhalten. Seine Kollegin reinigt wie jeden Tag mit einem Spezialgerät die Zwischenräume zwischen den Gumminoppen des Braillebandes, welches sich über alle Laufwege Roppongis erstreckt: Rückstände könnten hier zu Sprachfehlern führen.

Ich setze mich in die nächste U-Bahn und fahre nach Ochanomizu. Ochanomizu ist einer dieser Stadtteile Tokios, die sich auf ein spezielles Gewerbe spezialisiert haben. In Ochanomizu ist es das Musikgewerbe und speziell der Handel mit Gitarren: Es gibt unzählige Gitarrenläden, Tür an Tür, über mehrere Stockwerke, neue Gitarren, gebrauchte Gitarren, billige, teure, eine in der Welt wohl einmalige Auswahl. Ich lande in einem Laden, der nur Linkshändergitarren verkauft. Ehrfurchtsvoll streichle ich über die Fenders, Gibsons und Ovations, die zu hunderten an der Wand hängen. Alle nur für Linkshänder. Vielleicht, wenn sich die Finanzmärkte wieder erholt haben….?

Wieder draußen vor der Tür dasselbe belebte Treiben wie im Vergnügungsviertel Roppongi, nur hier in Ochanomizu mit einer deftigen Prise Studentin und Krankenschwester, da sich hier auch die Universitätskliniken befinden. Ob es hier wohl auch „Hostess Bars“ für Linkshänder gibt? Ich hole tief Luft und entscheide dann, daß ich heute keine Streicheleinheiten mehr verdient habe, daß ich ja eigentlich gar kein richtiger Linkshänder bin, und daß meine Mittagspause auch mal irgendwann zu Ende gehen muß.

Im Büro versuche ich wieder tief Luft zu holen, kann aber nur japsen. Meine Atemprobleme beängstigen mich schon seit einigen Wochen, die haben schon vor der Finanzkrise und vor meine Fuji-Besteigung begonnen, und um 17:00 Uhr beschließe ich dann endlich schweren Herzens und mit schwerer Lunge, die „Roppongi-Hills-Clinic“, eine Gemeinschaftspraxis von Ärzten aller Richtungen hier im Hause, aufzusuchen.

Ohne Warten komme ich sofort in die Konsultation. Die junge japanische Ärztin macht den Eindruck, als wäre Sie im Verlauf des sicher bisher schon achtstündigen Arbeitstages noch nicht in direkten Kontakt mit ihrer Kleidung gekommen. Die kurzen Ärmel des weißes Kittels weisen scharfe Bügelkanten auf, der Blusenkragen steht kerzengerade und blütenweiß in die Höhe, auf ihrem makellosen Gesicht sind weder Falten der Anstrengung noch Spuren von Schweiß auszumachen.

Kaum hat Sie mich abgehört legt Sie mir auch schon einen Ablaufplan vor und übergibt mich nahtlos an die beiden Vorzimmerdamen, die dem klassischen Idealbild einer Krankenschwester aus einem Krankenschwesterfilm entsprechen. Die beiden machen sich unverzüglich an die Arbeit: Die eine zapft Blut („Ich bitte vielmals um Verzeihung“ lautet die Ansage vor dem Piekser) während die Kollegin schon mal die Umlaufmappe für die Kollegen bestückt. Mit einer auf der Einstichstelle angelegten Druckkompresse werde ich an die Röntgenabteilung weitergereicht, wo man mich schon erwartet und schnell zwei Bilder von meiner Lunge anfertigt. Der Kollege von der Lufu wartet schon hinter der nächsten Tür. Er mimt nicht nur die Atemprozedur vor, sondern zieht auch nach erfolgtem Pustetest das von der Krankenschwester vorbereitete Pflaster aus der Umlaufmappe, denn jetzt kann der Druckverband von meiner Einstichstelle entfernt werden. Zurück bei den beiden Schwestern: die eine kniet sich vor mir nieder und entschuldigt sich vielmals dafür, an meinem kleinen Finger einen Sauerstofftest durchzuführen, während die andere den Bleistift zwirbelt.

Die Ärztin erwartet mich schon, und hat auch die Röntgenbilder schon auf ihrem Bildschirm. Ausführliche Besprechung der Ergebnisse, kurze Nachfrage beim Kollegen, ob dem dazu noch was einfällt, Gesundsprechung und Entlassung. Der ganze Prozeß war nach 60 Minuten vorbei, wobei die Zusammenstellung der Rechnung durch die Damen der Buchhaltung noch am längsten dauerte. Außerdem musste ich noch von der Bank auf derselben Etage das nötige Kleingeld abholen, um Honorar von ca. 160 EUR berappen, was ich angesichts des Personal- und technischen Aufwands sowie des auf diesem Gelände üblichen Quadratmeterpreises von 100 EUR für angemessen halte.

Beeindruckt vom japanischen Talent zur Prozessoptimierung im Gesundheitsgewerbe und vergnügt ob des guten Ergebnisses – meine Lunge läuft nach wie vor auf satten 100 bis 130% –- hole ich in der Apotheke auf demselben Stockwerk noch schnell die verschriebenen Psychopharmaka ab, die ich angesichts der günstigen Prognose gar nicht mehr benötige, denn ich bin erst mal wieder von meinem hypochondrischen Anfall erlöst.