Montag, 22. Dezember 2008

Weihnachten in Roppongi Hills, Tokio

Herbstfärbung im japanischen Wald

Japanische Thermalbäder fördern den Haarwuchs

Kleine Herbstreise - Teil 1

Eigentlich macht man in Japan keine „Road Trips“. Eine der tragenden Hauptsäulen der japanischen Gesellschaft ist die Berechenbarkeit, und davon abgleitet sind die beiden Nebensäulen „klare Hierarchien“ und „unbedingte Vorhersagbarkeit“. Der Japaner und die Japanerin kennen ihr angestammtes Plätzchen und sie wissen jeden Morgen genau, wo sie hin müssen und was sie da zu tun haben.

Der Japaner fährt nicht mal eben ins Blaue: Jede Überland-Zugfahrt und jede Übernachtung wird mindestens drei Wochen im Voraus gebucht, damit sich alle beteiligten Parteien darauf einstellen können und nichts Unvorhergesehenes eintritt. Nur so können jeden Tag die Millionenheere auf ihren reservierten Sitzen in den Schnellzügen Platz nehmen und sich entspannt ihre Reisbällchen in den Mund schieben, welche sie dann mit dem eiskalten Bier aus den immer perfekt bestückten Verpflegungswägelchen hinunterspülen. Unvorhergesehene Ereignisse und Situationen führen zu stressbedingten Reaktionen wie laut hörbares Durch-die-Zähne-Luft-Einsaugen, spastische Verbeugungsanfälle oder völlige Erstarrung.

Patty und ich hatten mangels Kenntnis der japanischen Geographie nur eine vage Vorstellung davon, wo wir diesen Herbst hinwollten und wie schnell wir vorankommen würden. Auf jeden Fall wollten wir uns erholen vom Tokioter Dauer-Zugfahren, wir wollten schöne Landschaft erleben und anhalten wo es uns passt: Richtung Nagano in den japanischen Alpen sollte es gehen und dann weiter zum japanischen Meer: Ein „Road Trip“ also.

Kurz nach Büroschluß mietete ich einen bequemen Reisewagen im zweiten Tiefgeschoß meines Büro- und Dienstleistungszentrums Roppongi Hills.
Beeindruckend wieder die Prozeßoptimierung bei bekannten Abläufen: Nach Ausfüllen der Formulare werden ein paar Knöpfe gedrückt und das komplexe Aufzugsystem der sich über fünf Ebenen erstreckenden unterirdischen „Parklandschaft“ hievt den georderten Wagen herbei und schiebt ihn in die Vereinzelungsrampe hinter einer elektronisch freizugebenden Glastür, bereit zum Abschuß in den Tokioter Verkehrskosmos.

Der Fahrt nach Hause war ein Klacks: 30 Minuten statt den üblichen 50 mit dem Zug; doch am nächsten Morgen: Über eine Stunde und rund 150 Ampeln, bis wir an der gewünschten Autobahnauffahrt ankamen. Allerdings einmal auf der Autobahn, Richtung von Tokio weg, geht es zügig voran: Tiefes Aufatmen, als wir unseren Weg durch die wunderschöne Gebirgslandschaft westlich von Tokio bahnen, und der Fujiyama grüßt hinter jedem zweiten Tunnel.

Die erste Sehenswürdigkeit, die Ritterburg von Matsumoto in der Präfektur Nagano, absolvieren wir ohne Probleme: Großzügige Parkplätze, geringe Eintrittspreise, ein individueller Führer nur für uns – ein strahlender Pensionär mit rührendem Englisch, der sich über das alte Wortspiel „Ohio“ (Pattys Heimatstaat) und „ohio gozaimas“ (guten Morgen auf japanisch) ausschüttete vor Lachen. Bei der Inspektion der aus Holz gezimmerten Ritterburg wird einem schlagartig klar, daß sich Japan noch vor 150 Jahren, als ein gewisser Commodore Perry mit seiner schwarzen Flotte bei Shimoda an die Tür klopfte, auf einem Entwicklungsstand irgendwo zwischen Steinzeit und Mittelalter befand.

Danach bequeme Weiterfahrt auf guten Nebenstraßen zur Künstlerstadt Obuse mit Boutiquencharakter und wiederum unerwartet guter touristischer Infrastruktur: Wir waren mitten auf dem Land und fühlten uns meilenweit von Tokio entfernt (was wir auch tatsächlich waren). Im Museum des Wellenmalers Hokusai: Ganz beeindruckend sein Chrysanthemen-Diptychon im Original und auf Rolle gehängt, vor dem man unwillkürlich kleben bleibt wie vor einem Grünewald oder einem da Vinci.

Hinterher noch ein Probiererle in der Gaststube einer gediegenen Sake-Brennerei: Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Es war ja immerhin schon fünf Uhr! In Tokio macht dies keinen großen Unterschied, auf dem flachen Land wird es dann allerdings zappenduster und etwas unübersichtlich. Die erste Übernachtung hatten wir – aus Respekt vor den japanischen Reise-Usancen – im Voraus gebucht: Einen kleinen Ryokan (traditioneller japanischer Gasthof) in einer kleinen Badestadt am Fuße der Berge, der von einem australischen Reiseführer warm empfohlen wurde („englischsprechender Wirt und Zen-Meister gibt Unterricht im Bogenschießen“)

Wir hatten allerdings noch ein Stück Fahrt vor uns in der Dunkelheit. Leider waren die meisten Straßenschilder jetzt nur noch japanisch beschriftet. Die Landstraßen, die jetzt wieder durch verdichtetes Gebiet führten, waren plötzlich ziemlich eng. Die lückenlosen Bordsteinreihen, welche die enge Fahrspur links und rechts von einem schmalen Fußpfad trennen, haben eine Höhe von geschätzten 25 Zentimetern, was beim Aufsetzen bleibende Schäden am Chassis zur Folge hätte. In dem engen und dunklen Kanal müssen wir aus der landesüblichen Durchschnittsgeschwindigkeit von 40 km/h immer wieder scharf abbremsen, um den Aufprall mit entgegenkommenden, unbeleuchteten Rollstuhlfahrern und Schulkindern abzumildern.

Schließlich erreichen wir Yudanaka-Onsen. Die Stadt entsprach auf den ersten Blick nicht unseren Bilderbuchvorstellungen eines Thermalbadeortes: Eine gewisse Lieblosigkeit im Detail ließ sich auch bei Dunkelheit nicht verstecken. Immerhin würde sich der Ort gut als Kulisse für einen europäischen Nachkriegs-Film eignen. Zum Beispiel Erster Weltkrieg.

Als wir beim Bahnhof mit dem abgeblätterten Holzdach angekommen waren, stellte sich das nächste Problem: Japanische Gasthöfe haben keine Gasthofschilder. Und außerdem gibt es in Japan keine Straßennamen. Das Nummerierungssystem der japanischen Städte, von einem buddhistischen Mönch im - dreizehnten Jahrhundert etnwickelt, reiht Häuserblocks und Häuser scheinbar willkürlich aneinander. Wenn ein Japaner eine ihm unbekannte Adresse aufsucht, bekommt er deshalb meistens eine schematische Karte in die Hand gedrückt, die er dem Taxifahrer überreichen kann. Dort sind dann wichtige Orientierungspunkte groß hervorgehoben: „Blaue Brücke“, „dritter McDonalds auf der linken Straßenseite“, „Eiffelturm“ etc.

Als wir den Ryokan schließlich über die nur in Bruchstücken verstandene telefonische Anweisung („Brücke an der Biegung des Flusses...abschüssige Harnleiter...zweite Bretterbude links“) erreichten, erwartete uns der Wirt schon an der Plexiglasschiebetür seiner Bretterbude, sein altes Väterchen verbeugte sich grüßend im Hintergrund. Ein Kettenhund war in der schmuddeligen Lobby des Empfangsbereiches angeleint und sprang aufgeregt auf den eigens für seine Notdurft ausgelegten Erwachsenenwindeln auf und nieder.

Wir waren dennoch froh, reserviert zu haben, denn es hatte sich noch ein weiteres -australisches - Touristenpaar in dieses Etablissement verirrt, mit dem wir das Plumpsklo auf dem Flur teilen durften. Unsere Kammer hatten wir allerdings ganz für uns alleine. Sie war aus Faserplatten mittlerer Dichte gezimmert. Um dem Türrahmen die zur Schließung notwendige Stabilität zu verleihen, hatte man für den Pfosten auf der Schloßseite einen unbehandelten Espenast ausgewählt. Der vorherrschende Farbton der Aussenwände war Lebkuchen. Die Futons waren auf den Tatami-Matten schon liebevoll ausgerollt, wir wickelten uns in die zeremoniellen Jukatas, tranken von der aufgebrühten Zigarrenasche und ließen uns erschöpft zu Boden sinken.-

Am nächsten Morgen dann das böse Erwachen: Erstens taten von dem Auf-dem-Boden-Schlafen mal wieder alle Glieder weh, und zweitens gab’s kein Frühstück. Nur die Australier bekamen was zu Essen; in der Aufregung hatten der Wirt und sein altes Väterchen vergessen uns zu fragen, ob wir auch was wollten.

Wir zogen uns in die Schmollecke zurück, in der glücklicherweise ein Gemeinschafts-Badezuber mit Thermalwasser untergebracht war. Bis zur Halskrause ließen wir uns in den nach Geschlechtern getrennten Becken ins heiße Wasser sinken. Erfrischt, entspannt und mit der Welt versöhnt packten wir danach unsere Sachen und machten uns wieder auf den Weg. Der Kettenhund sprang erregt auf den Windeln, die inzwischen Gebrauchsspuren auswiesen, auf und ab. Herzlich verabschiedete uns der Wirt, dessen kleines Väterchen inzwischen zum Mütterchen mutiert war – kein schlechter Trick!