Samstag, 24. Januar 2009

Der Fujiyama weist den Weg nach Tokio

Halloween im japaníschen Wald

Japanische Vogelscheuche

Japanischer Weinberg

Kleine Herbstreise – Teil 2

Der Nachmittag brachte Unerwartetes: Nach einem Ausflug auf weit über 1000 Meter ins viel zu kalte Schigebiet Shiga Kogen fuhren wir schnell wieder ins Tal und suchten uns einen Punkt am gegenüberliegenden Horizont: Sanfte Hügel in Sonnenlage lockten uns zu einem altweiberlichen Sommerspaziergang. Das ganze Nagano-Tal lag vor uns ausgebreitet und wir stellten fest: Es ist ein fruchtbares Tal. Die Lieblichkeit der Landschaft erinnert stark an andere der Sonne zugewandte Vorgebirgslandschaften, die sich voll dem Obstanbau gewidmet haben, in anderen Teilen der Welt, sei es nun südlich der Alpen, westlich der Rocky Mountains oder sonstwo wo ich noch nicht war.

Zwischen saftigen Reben wanden wir uns die sacht ansteigenden Bewirtschaftungswege hoch, die im Rheingau oder Kaiserstuhl auch nicht anders aussehen. Lautlos und mit entspannter Konzentration pflückten weißbehandschuhte Japanerinnen rote Riesenäpfel von dichtstehenden Zwergbäumen und legten sie umsichtig in überquellende Weidenkörbe, welche sie anschließend mit Ihren bereitstehenden steuerbegünstigten Minilastern mit gelbem Nummernschild abtransportierten. Schweigsam starrten uns skurrile Vogelscheuchen an, welche halbverdeckt hinter den von karminroten Kakifpflaumen schwerbeladenen Ästen hervorlugten.

Der Weg verlor sich nach einiger Zeit im buntgefärbten Herbstwald, und wir kehrten gerne auf derselben Route zurück: Die Früchte schmeckten hervorragend, mit der Massenware im Tokioter Supermarkt nicht zu vergleichen.

Beim Auto wiederangekommen stellte sich die Übernachtungsfrage: Die Nacht in Japan bricht plötzlich und unerwartet herein, und wir wollten nicht wieder stundenlang an viel zu hohen Bordsteinen entlangschrubben und uniformierte Schulkinder gefährden. Ums Haar wären wir in das primitive Landgasthaus der letzten Nacht zurückgekehrt, währte das wohlige Thermalbadgefühl doch immer noch an. Doch die Abenteuerlust überwog und wir entschlossen uns, in die eine Stunde entfernte Präfekturhauptstadt Nagano zu fahren: Von einem dort als gut ausgewiesenen Stadthotel hatten wir die Telefonnummer, wir wollten ja auch in der kurz bemessenen Zeit nicht zum Wiederholungstäter werden, und der Preis war nur grade mal doppelt so hoch, inkludierte dabei aber schon das Frühstück.

Auf der Straße schienen gerade die paralympischen Spiele eröffnet worden zu sein; wir hatten mal wieder eine Dreiviertelstunde allerhand zu tun, um die Kollision mit Rollstuhlfahrern und Sonderschulkindern auf den engen, schlechtbeleuchteten Nebenstraßen zu vermeiden. Endlich stießen wir auf eine nummerierte Hauptverkehrsstrasse, die auch auf unserer Karte verzeichnet war, und konnten uns in den endlos erscheinenden Stau nach Nagano-Stadt, entlang einer durchgängigen, universellen Phalanx von Tankstellen, Schnellrestaurants und Autohändlern einreihen. Die Harmonie war durch das lange Eingesperrtsein im Auto aber erstmal gestört, und der eine wies dem anderen die Schuld an der beknackten Entscheidung zu – der Tag schien doch noch böse enden zu wollen. Völlig gestresst waren wir – wieder eine Stunde später – eben dabei, uns bei einem Kampfhalt an der Tanke mit den – wie in Japan üblich platzsparend von der Decke hängenden – Zapfstutzen gegenseitig die Schädel einzuschlagen, als eine Tankwärtin uns die Telefonnummer unseres Hotels ins Navigationssystem eintippte: Dies brachte uns binnen zehn Minuten direkt vor die Auffahrt des Saihokukan-Hotels in Nagano-Stadt.

Das für relativ wenig Geld erhaltene Zimmer mit der Nummer 4005 kann ich sehr empfehlen: Ein großes Bett mit Taschenfederkernmatratzen erster Güte, hinter dem raumtrennenden altenglischen Sekretär eine fette amerikanische Sofagarnitur, eine gut gefüllte Minibar, dicke Bademäntel und ein von hinten beheizter Spiegel im großen Bad verhinderte das Beschlagen desselben, und zwar beim Rasieren des Gesichts nach der ausgiebigen Dusche. Anschließend setzten wir uns in den gediegenen Salon neben dem französischen Restaurant im Erdgeschoß, und bei einer dicken Zigarre und einem wohltemperierten Cabernet gaben wir uns – wieder versöhnt – einer entspannten Kontemplation über die Vorzüge japanischer Großstadthotels hin.

Am nächsten Tag war Weltspartag, der in Japan traditionell als Halloween begangen wird. Nach dem ordentlichen westlichen Frühstück beschlossen wir angesichts des großartigen Preis-Leistungs-Verhältnisses noch einen Tag im gleichen Hotel zu bleiben und stellten unsere Resturlaubspläne kurzerhand um: Statt einen wilden Fahrplan ans Japanische Meer auszuhecken und den meisten Tag im Auto zu verbringen, folgten wir einfach dem nächsten Flusslauf in die japanischen Alpen. Nach einer knappen, von schönem Landschaftsbild und wunderbarer Herbstfärbung geprägten Stunde kamen wir so in Oomachi an, einem Zentrum der japanischen Bergsteigerzunft. Nachdem wir fünf Minuten die Hauptstraßen abgefahren hatten gaben wir die Suche nach Lodenhüten und Edelweiß auf; das Stadtbild entsprach eher einer dem einer Kleinstadt in Alaska – kurz v o r dem Goldrausch. Also machten wir es wie am Tag zuvor: Anpeilen eines attraktiven Bergrückens am Stadtrand, Auto abstellen, hochwandern: Eine Formel, die auch in Japan zu funktionieren scheint. Und in der Tat stießen wir Stunden später auf dem 1300 Meter hohen Gipfel neben einem Holzpferd, einem Aussichtsturm und einem Shinto-Schrein bei milden Temperaturen auch auf eine Gastwirtschaft, in der uns mit eiskaltem Bier ein herzlicher Empfang bereitet wurde – außer uns hatten sich nur zwei weitere verliebte Paare hierher verirrt.

Jetzt hatten wir nur noch anderthalb Urlaubstage, aber wir hatten unseren Rhythmus gefunden. Wiederum suchten wir uns am nächsten Morgen ein Flusstal, diesmal Richtung Süden bzw. Tokio, und der Reiseführer hatte uns an die richtige Stelle gelotst: Zwei mittelalterliche Dörfer vom Typ Poststation, Tsumago und Magome, die wichtige Etappen auf der alten Route Tokio – Osaka markierten, waren herausgeputzt wie ob der Tauber. Nur das gelegentliche Reisfeld gab einen Hinweis darauf, dass wir uns doch nicht im Wallis befanden. Außerdem waren wir hier von mehr Japanern umzingelt als auf dem Jungfraujoch.

Nachdem wir uns mit Lodenhüten und Edelweiß eingedeckt hatten machten wir uns auf Zimmersuche: Die Dame im antiken Fremdenbüro setzte alle Hebel in Bewegung, und fand schließlich nach vielen Telefonaten noch eine letzte Herberge in einem Aussiedlerhof hoch über dem nächsten Dorf. Also konnten wir in Ruhe den Nachmittag in der Herbstsonne genießen, welche sich untergehend in den warmen Farben der Holzhäuser und der zum Trocknen aufgehängten Feldfrüchte brach. –

Als wir beim Aussiedlerhof ankamen war es – obwohl erst sechs Uhr – schon wieder stockfinster. D. h. wir kamen gar nicht an, sondern wir mussten das Auto an der letzten Kreuzung parken und uns mit Händen und Füßen den Berg hochtasten – es war zu dunkel, um einen konkreten Straßenverlauf auszumachen. Der Hof war dann doch beleuchtet und erinnerte sehr stark an etwas, was wir schon mal im Schwarzwald gesehen hatten. Die Hausherrin im Bademantel öffnete uns die Tür – wir waren wieder in einem Ryokan gelandet.

Das Zimmer, zu einem ähnlichen Preis wie das luxuriöse Großstadthotel der beiden Nächte davor, entsprach dem Standard Studentenwohnheim frühe sechziger Jahre, nur mit etwas weniger Charme, und daß es eben nach japanischer Sitte kein Bett gab. Aber: der stolze Preis beinhaltete neben dem Frühstück und zwei Jukatas – traditionellen japanischen Bademänteln – auch das Abendessen. Um uns herum saßen 40 Japaner in Jukatas und schoben sich mit ihren Stäbchen haufenweise ungenießbare Sachen in den Mund – wir kamen uns vor wie Heinrich Harrer im ersten Jahr in Tibet. Gottseidank gibt es aber das leckere japanische Bier: Damit konnte ich zumindest den gegarten und von Extremitäten befreiten Teil des Abendessens hinunterspülen. Und nett waren Sie auch, muß man schon sagen.

Aber Patty hatte mich schon gewarnt: Das Wachbecken im Gemeinschaftsbad sei wohl schon seit Abschluß der ersten Bauphase nicht mehr gereinigt worden. Und was sei dies für ein komisches Insekt da an der Wand unserer Schlafkammer?

Zuerst versuchte ich das Ganze noch mit Humor zu nehmen: Alle zehn Minuten zerdrückte ich eine neu zwischen den Ritzen der Tatamimatten auftauchende Wanze und deponierte die Reste auf dem Aschenbecher im Flur. Ich stellte die Kamera an und filmte mich, wie ich – in meinen japanischen Bademantel gekleidet – zerdrückte Wanzen auf dem Aschenbecher im Flur deponierte. Patty war stinksauer, und auch ich fühlte mich nicht mehr ganz so wohl wie am Nachmittag. Als ich mir dann auch noch im Display den Film anschaute, wie ein offenbar leicht angetrunkener alter Geselle, mit schütterem Haar und einem albernen japanischen Bademantel bekleidet, Wanzen zerdrückt und auf dem Aschenbecher im Flur deponiert, ging auch meine Stimmung nahtlos in die Depressionsphase über. Ich beschloß, mich auf den Boden zu legen, mich mal so richtig zu verspannen und meinen Alpträumen nachzugehen. Zu dem weiteren Verlauf der Nacht ist nichts zu sagen, als daß ich alle zehn Minuten das Licht wieder anknipsen mußte um eine beknackte Wanze, die sich durch lautes Flügelschlagen bemerkbar gemacht hatte, zu zerdrücken.-

Als die japanischen Mitbewohner am Morgen nach Landessitte die Reste des Abendmahls zu sich nahmen schlichen wir uns aus dem Haus, steuerten den Wagen Richtung Fujiyama und freuten uns den ganzen Tag auf unser Bett in einem schönen Haus in Tokio.
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Am 16. Januar 2009 berichtet die Japan Times von der jährlichen Neujahrs-Gedichtelesung im kaiserlichen Palast. Die Teilnehmer waren aufgefordert, ein Gedicht im „Waka“-Stil zu verfassen. Ein Waka-Gedicht besteht üblicherweise aus 31 Silben, aufgeteilt in das Versmaß 5-7-5-7-7. Das Thema für die diesjährige Lesung lautete „Leben“.

Wie jedes Jahr steuerte auch der Kaiser selbst ein eigenes Gedicht bei. Es handelt vom Geziefer in seiner Residenz und wurde von der kaiserlichen Hofverwaltung wie folgt veröffentlicht:

Geschöpfe beobachtend
Wie ihr Leben eng verbunden ist
Und verwoben
Fünfzehn Jahre leben wir jetzt
Hier im kaiserlichen Palast

Das Gedicht der Kaiserin handelte von sommerlichen Mückenschwärmen.